Hier sehen Sie einige Definitionen zum Thema Ethnomedizin:

DEFINITION

Die Ethnomedizin oder Medizinethnologie ist eine wissenschaftliche Methode, dem Heilwissen fremder Kulturen zu begegnen. Dabei geht es primär nicht um Heilmittel, die bei anderen Völkern angewendet werden, sondern vielmehr darum, andere Perspektiven ernstzunehmen und als bedeutsam anzuerkennen. Schließlich werden 80 Prozent der Weltbevölkerung bis heute durch verschiedenste Formen von traditioneller Medizin versorgt, die eng mit der Geschichte und Kultur der jeweiligen Region verbunden sind. Auch unsere eigene Medizin ist keine exakte Naturwissenschaft, sondern Teil eines kulturellen und sozialen Systems. Die Ethnomedizin untersucht, wie in verschiedenen Kulturen mit Gesundheit, Krankheit und Heilung umgegangen wird. Somit stellt die Ethnomedizin ein interdisziplinäres Arbeitsfeld dar, das die Medizin und angrenzende Naturwissenschaften sowie Sozial- und Gesellschaftswissenschaften wie z.B. die Ethnologie, Medizinsoziologie und Psychologie verbindet.

BIOMEDIZIN

Unter dem Begriff Biomedizin wird (nach Hahn und Kleinman 1983) eine Medizin verstanden, deren Wissens- und Handlungsspektrum sich an den Naturwissenschaften mit der Biologie als Leitwissenschaft ausrichtet und auf dem euro-amerikanischen Weltbild mit seiner entsprechenden Körperkonzeption basiert.

GESUNDHEIT

“Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.” (Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19-22 June, 1946).

„Gesundheit: (engl. health); 1. i.w.S. nach der Definition der WHO der Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens; 2. i.e.S. das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störungen oder Veränderung bzw. ein Zustand, in dem Erkrankung und pathologische Veränderung nicht nachgewiesen werden können.“ (Klinisches Wörterbuch Pschyrembel 2002).

KRANKHEIT

„Krankheit: (engl. disease, illness); Erkrankung, Nosos, Pathos, Morbus; 1. Störungen der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen bzw. seelischen Veränderungen; 2. im Sinne der sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen Gesetze der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand, der in der Notwendigkeit einer Heilbehandlung (…) oder der Arbeitsunfähigkeit wahrnehmbar zutage tritt; 3. begriffliche Bezeichnung für eine definierbare Einheit typischer ätiologischer, morphologischer, symptomatischer, nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die als eine bestimmte Krankheit verstanden wird.“ (Klinisches Wörterbuch von Pschyrembel 2002).

HEILUNG

„Heilung: (engl. cure; lat. curatio); vollständige oder nur teilweise (Defektheilung) Wiederherstellung der Gesundheit (bzw. des Ausgangszustands) nach einer Krankheit.“ (Klinisches Wörterbuch von Pschyrembel 2002).

zwei Aspekte von “Sickness” (Erkrankung) nach Kleinman 1981:
curing of disease – Therapieren einer Krankheit
healing of illness – Heilung des Krankseins


HEILEN / THERAPIEREN

Zwei unterschiedliche Ebenen des Heilens nach Strathern/Stewart 1999:
curing – Behandlung rein körperlicher Krankheiten
healing – ganzheitliche Heilung auf unterschiedlichen Ebenen von
Körper, Geist, Gesellschaft und Kultur


MEDIZIN-SYSTEME

Definition aus der Medizinethnologie nach Landy 1977:
„A society’s medicine consists in those cultural practices, methods, techniques, and substances, embedded in a matrix of values, traditions, beliefs, and patterns of ecological adaptation, that provide the means for maintaining health and preventing or ameliorating disease and injury in its members."
"A society’s medical system is the total organization of its social structures, technologies, and personnel that enable it to practice and maintain its medicine (as defined), and to change its medicine in response to varying intracultural and extracultural challenges.”

TRADITIONELLE MEDIZIN

Unter „traditioneller“ Medizin werden verschiedenartige ethnomedizinische Konzepte verstanden, die von Region zu Region unterschiedlich und mit der Geschichte und Kultur einer Gruppe eng verbunden sind (Rubner 2005).

KULTURVERGLEICH & REFLEKTION

Bei der Untersuchung fremdkultureller Erkrankungen sollten sowohl die kognitiven Dimensionen indigener Erklärungsstrategien als auch die Vernetzung mit weiteren Bereichen indigener Auffassungen wie Kosmologie, Religion, Welt- und Menschenbild fokussiert werden. Diese stellen den Referenzrahmen für indigene Konzeptionen, deren Diagnose sowie Behandlung dar. Durch diesen Blickwinkel kann erst ein Verstehen und letztendlich eine Akzeptanz unterschiedlicher Erklärungsmodelle und Therapien entwickelt werden. Mit anderen Worten: „Die ätiologische Anschauung einer Gruppe ist wie kaum eine andere kulturelle Äußerung ein Spiegel ihrer Weltsicht“ (Faust 1983).

Quellen:

Zusammenstellung der Definitionen von Florian Rubner
Strathern, Andrea und Steward, Pamela J. 1999: Curing and Healing. Medical Anthropology in Global Perspective. Durham (N.C.): Carolina Academic Press.
Hahn, R. A and Kleinman, A.(1983). Biomedical Practice and Anthropological Theory: Frameworks and Directions. Annual Review Anthropology 12: 305-333.
Kleinman, Arthur 1981: Patients and Healers in the Context of Culture: An Exploration of the Borderland Between Anthropology, Medicine, and Psychiatry. Berkeley: University of California Press.
Landy, D 1977: Traditional Curers and the Impact of Western Medicine. In: Landy (ed.) Culture, Disease and Healing, London: Macmillan Press. Pp.468-481.
Franz X. Faust 1983: Medizinische Anschauungen und Praktiken der Landbevölkerung im andinen Kolumbien (Münchner Beiträge zur Amerikanistik).



Lesen Sie hier ein Interview zum Thema Ethnomedizin mit M.A. Florian Rubner.

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Einige Klassiker der ETHNOMEDIZIN (Auswahl):


1. ÜBERSICHTSWERK ETHNOLOGIE

Greifeld Katarina (Hrsg.) 2003: Ritual und Heilung. Eine Einführung in die Medizinethnologie. Dietrich Reimer Verlag: Berlin (3. grundlegend überarbeitetete und erweiterte Auflage)
• Die kulturelle Bedingtheit von Krankheit und Heilung in der ganzen Welt ist Gegenstand dieses Buches. Es zeigt beispielhaft, dass Erkrankung in ein breites Netzwerk kultureller Deutungen und Praxisanweisungen eingebunden sind, und nicht nur alleine biologisch oder aus der Natur des Menschen heraus zu erklären sind. "Ritual und Heilung" ist ein Standardwerk zur Einführung in die Medizinethnologie mit Beispielen aus Afrika, Asien, Afroamerika und Lateinamerika.

2. ÜBERSICHTSWERK ETHNOLOGIE UND MEDIZIN

Hörbst, Viola & Wolf, Angelika (Hrsg.) 2003: Medizin und Globalisierung. Globalisierung der Heilkunde: Eine Einführung. LIT Verlag, Münster: S.3-30.
• Dieser Band versammelt Beiträge, die anhand von ethnologischen Feldstudien und theoretischen Auseinandersetzungen aufzeigen, dass die Biomedizin mit ihrem globalen Anspruch einer Wandlung im kulturellen Kontext unterzogen wird. (...) Der Band leistet einen Beitrag zum Diskurs um Globalisierung in der Medical Anthropology.

3. BEISPIELE VON ETHNOMEDIZIN IN VERSCHIEDENEN KULTUREN

Wolf, Angelika & Stürzer, Michael (Hrsg.) 1996: Die gesellschaftliche Konstruktion von Befindlichkeit. Ein Sammelband zur Medizinethnologie. VWB Berlin.
• Der Biomedizin wird in westlichen Industriegesellschaften ein objektiver Charakter zugesprochen. Das macht es schwer, Medizinsysteme im Kulturvergleich zu verstehen. Tendenziell werden Vorstellungen und Praktiken der Befindlichkeit und des Körpers auf ihren "biomedizinischen Kern" hin abgeklopft. Was dabei zur Seite fällt, wird dann häufig als "kulturelles Beiwerk" abgetan. Dieser Band versammelt Beiträge, die anhand von ethnologischen Fallstudien und theoretischen Auseinandersetzungen für mehrere Kulturen aufzeigen, daß Befindlichkeit immer ein gesellschaftlich konstruiertes Phänomen ist. Schwerpunkt sind dabei die Konstruktionen von Körper- und Krankheitserfahrungen, medizinethnologische Ansätze zu Aids in Afrika und die historische Genese der Biomedizin.

4. DEFINITIONEN VON ETHNOMEDIZIN

Lux, Thomas 2003: Kulturelle Dimensionen der Medizin. Viele Namen für dieselbe Sache? Ethnomedizin, Medizinethnologie und Medical Anthropology. Dietrich Reimer Verlag, Berlin: S.10-S.30
• Dieses Buch zeigt aktuelle Entwicklungen in der Erforschung der kulturellen Dimensionen von Medizin. Aus der Perspektive von Ethnomedizin, Medizinethnologie und Medical Anthropology werden Gesundheitsprobleme im Kontext von lokaler Kultur und globalen Entwicklungen erkundet.

5. BASISLITERATUR

Strathern, Andrea und Steward, Pamela J. 1999: Curing and Healing. Medical Anthropology in Global Perspective. Durham (N.C.): Carolina Academic Press. ISBN 0890800428
• Sehr zu empfehlen! Ausführlich dargestellte Beispiele, konzipiert für Ethnologen und Medizinier gleichermaßen.

Zusätzliche weiterführende Literatur zur Ethnomedizin:
Ackerknecht, Erwin H. 1986 (5.Aufl.): Geschichte der Medizin. Stuttgart
Baer, Hans G. und Singer, Merrill 1997: Medical Anthropology and the New World System
Foster, George M. u. Anderson, Barbara 1978: Medical Anthropology. John Wiley & Sons: New York
Foster, George M. 1993: An introduction to ethnomedicine. In: Bannerman R.H. (Ed.) 1983, WHO; Geneva: Traditional medicine and health care coverage; S. 17-24
Good, Byron 1994: Medicine, Rationality and Experience. Cambridge University Press: Cambridge
Helman, Cecil G. 1990: Culture, health and illness. Oxford.
Johnson, Thomas M. u. Sargent, Carolyn F. 1990: Medical Anthropology. Contemporary Theory and Method. Praeger: New York
Kleinman, Arthur 1981: Patients and Healers in the Context of Culture. University of California Press: Berkley, Los Angeles, London (-> sickness – disease – illness; Erklärungsmodelle)
Siegler, M., & Osmond, H. (1974). Models of madness, models of medicine. New York: Macmillan.
Torrey, E.F. (1986). Witchdoctors and psychiatrists. New York: Harper & Row.


Hören Sie hier einen Vortrag zum Thema Ethnomedizin von Prof. Stanley Krippner (USA).
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